"Unsere Eltern kiffen mehr als wir, wie soll man rebellieren? Egal wo wir hinkommen, unsere Eltern war'n schon eher hier. Wir sind geboren im falschen Jahrzehnt. Und wir sitzen am Feuer, hören zu was die Alten erzählen", singt Felix Brummer von der Chemnitzer Band Kraftklub im Song "Zu jung". Und in der Tat kann man das, was damals alles in einer stockkonservativen, religiös geprägten Gesellschaft abging sowie den Widerstand dagegen, nicht mehr mit der heutigen Welt der Jugendlichen und jungen Erwachsenen vergleichen. Jeden Zentimeter seiner Haarpracht musste man sich damals zuhause erkämpfen. Man badete nackt im Weiher, wie es der "Woodstock"-Film zeigte oder düste mit dem Moped Landstraßen entlang und fühlte sich wie in "Easy Rider". Mit Christoph Wagners neuem Buch DER SÜDEN DREHT AUF – DIE POPREVOLTE DER 60ER- UND 70ER JAHREN IN BILDERN (Silberburg Verlag) kann man mittels zahlreicher rarer Fotos und kurzen, informativen Texten in die Aufbruchsstimmung jener Zeit eintauchen.
Wieder hat sich der aus Balingen stammende Autor und Musikjournalist bei seiner Recherche auf den Südwesten Deutschlands konzentriert. Mit mehr als 100 raren und zum Teil noch nie veröffentlichten Fotos aus den 60er- und 70er-Jahren gibt es auch für Leute mit gutem Insiderwissen in diesem Bildband viel Neues zu entdecken. Die Motive stammen von Johannes Angele, Jörg Becker, Manfred Grohe, Rupert Leser, Manfred Rinderspacher, Lothar Schiffler und Martin Schultz. Sie alle - bis auf den verstorbenen Rupert Leser - haben für das Buch in ihren Archiven gegraben und Erstaunliches zu Tage gefördert. Christoph Wagner hat jeweils eine kurze Einleitung zu den Kapiteln geschrieben und die Fotos kommentiert. "Es ist eine Art Fortsetzung in Bildern von »Träume aus dem Untergrund«", meint er dazu. In der Tat ergibt sich eine gewisse Schnittmenge zu seiner vorigen Veröffentlichung. Man wird beim Lesen immer wieder mit Namen konfrontiert, die auch bei "Träume aus dem Untergrund" im Fokus stehen. Weil jedoch in DER SÜDEN DREHT AUF die vielen Fotos im Mittelpunkt stehen, stört dies überhaupt nicht.
In den sieben Kapiteln des Buches wird der Bogen von der Beat-Szene Mitte der 60er-Jahre bis hin zu den ersten Punk- und New Wave-Highlights Ende der
70er-Jahre gespannt. Es gibt es viel Interessantes zu entdecken. Jimi Hendrix in Stuttgart, Emerson Lake & Palmer in der Ravensburger Oberschwabenhalle und Black Sabbath im Jahr 1969 bei
ihrem ersten Deutschland-Auftritt in der Berufsschule (!!) in Göppingen. Weitere Motive zeigen Konzertfotos von den Rolling Stones, Pink Floyd, Traffic, Humble Pie, Frank Zappa, The Troggs, Alice
Cooper und Patti Smith, um nur einige zu nennen.
Das Buch bietet auch reichlich Bilder von damals populären regionalen Bands wie The Five Fold Shade, Muli & His Misfits (mit Wolle Kriwanek), Puppenhaus,
Eulenspygel (sehr atmosphärisch im Stuttgarter Pragfriedhof), Exmagma, Hotzenplotz, Orexis, Flute And Voice (mit Dorle Ferber) oder Tatzelwurm (mit Alex und Georg Köberlein). Szene-Urgesteine wie
Andy Goldner, Herbert Grab oder Teflon Fonfara beschreiben mit kleinen Statements die alten Zeiten, in denen viel improvisiert werden musste und Experimentierfreudigkeit groß geschrieben
wurde.
Um die Spannung nicht vorweg zu nehmen, seien hier nur zwei der vielen von Christoph Wagner recherchierten Anekdoten erwähnt. Jan Fride trat im Frühjahr
1967 mit seiner damaligen Schülerband The Citizens in der Ulmer Donauhalle im Vorprogramm von The Who auf. Da der spätere Kraan-Drummer erst 14 Jahre alt war, brauchte er vorab extra eine Auftritts-Genehmigung des Jugendamtes. Auch Udo Lindenberg startete seine Karriere als Schlagzeuger. Als er mit der Hamburger Folkrock-Band City Preachers (mit Inga Rumpf als Sängerin) am 5. April 1969 in der Nürtinger Stadthalle auftrat, war Hochprozentiges kein Problem. Er hatte zu der Zeit in seiner Bass-Drum für sich und seine Mitmusiker eine kleine Bar eingerichtet.
Das Buch bietet auch einen Rückblick auf die Jazz-, Blues- und Folk-Szene. So sind im Kapitel "Auf den Spuren der Geschichte" zwölf Seiten dem "Tübinger Festival" gewidmet, das in seiner Blütezeit eine fünfstellige Besucherzahl anzog. Heute ist das Folk-, Liedermacher- und Weltmusik-Open Air schon fast vergessen. Donaueschingen als Hochburg des experimentellen Jazz wird mit Fotos von Sun Ra, Don Cherry und weiteren Grenzgängern des Genres gewürdigt.
Musik war jedoch nur ein Aspekt der Revolte. Mit Antikriegs-Demonstrationen und ab Ende der 70er-Jahre auch mit Hausbesetzungen rüttelte die junge Generation im Südwesten das Land wach. Am
15. April 1970 schwappte der Protest ins kleine oberschwäbische Biberach über, wo eine stattliche Schülerdemo gegen den Numerus Clausus durch die Straßen zog. Wagners Bildband zeigt: Pop und
Protest waren damals eng miteinander verzahnt.
Mit seinem Retrostil orientiert sich der Band an das Lay-Out der frühen 70er-Jahre. "Ein schönes Buch über eine schöne Zeit", lobte ein Käufer von DER SÜDEN DREHT AUF unlängst. Dem kann man sich nur anschließen.
Wer mehr über über den Aufbruch des Südwestens zu in bis dato unbekannte musikalische Sphären und neue Gesellschaftsformen erfahren möchte, macht mit Christoph Wagners anderen beiden
Büchern nichts falsch. "Träume aus dem Untergrund" und
"Der Klang der Revolte" sind beide bei Hinterland
besprochen.
Christoph Wagner: Der Süden dreht auf - Die Poprevolte der 60er- und 70er-Jahre in Bildern. Hardcover, 191 Seiten, Silberburg-Verlag
Tübingen, ISBN 978-3-8425-2185-8, 29,99 Euro.
Miche Hepp